Die Lebenserwartung von schwer(st)geschädigten Kindern

Über die mittlere Lebenserwartung von gesunden Säuglingen und Kleinkindern geben Tabellen Auskunft. Wie die individuelle Lebenserwartung von schwer(st)geschädigten Betroffenen nach Geburts- oder Unfallschäden verlässlich zu beziffern ist, lässt sich nicht pauschal beantworten. Hier ist medizinische Fachexpertise gefragt.

Von Dr. med. Rokya Camara, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin; Leitende Oberärztin am St. Marien-Hospital Bonn

Die statistische Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Geburt ist abhängig von Geburtsort- und -jahr sowie vom Geschlecht. Treten im Laufe des Lebens Krankheiten oder krankhafte Zustände auf, verändert sich die Lebenserwartung. Je früher es zu einer Schädigung kommt, desto relevanter kann die Einbuße an Lebenszeit sein. Medizinische Gutachter:innen von geburtsbezogenen und frühkindlichen Schäden sehen sich daher mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert.

Einflussgrößen auf die Lebenserwartung

Für einen gesunden Säugling ist die mittlere Lebenserwartung Tabellen zu entnehmen. Die individuelle Lebenserwartung unterliegt dabei vielfältigen Einflussgrößen – von genetischen Faktoren bis zur Exposition gegenüber schädigenden Ereignissen oder Stoffen (Noxen).

Insbesondere für die Auswirkung einer frühkindlichen oder um die Geburt stattfindenden Schädigung auf ein sich entwickelndes Gehirn und Nervensystem ist zum Zeitpunkt der Schädigung eine Vorhersage jedoch kaum möglich. So entwickelt ein Kind nach schwerer Asphyxie (Sauerstoffmangel) erst im Laufe des ersten Lebensjahres die klinischen Zeichen einer spastischen Cerebralparese. Und möglicherweise führt nicht der Primärschaden, sondern erst die Vernarbung von geschädigtem Hirngewebe zu einer Epilepsie.

Die Lebenserwartung kann umso genauer geschätzt werden, je mehr Informationen über den Verlauf vorliegen; bestenfalls durch medizinische Berichte, Entwicklungsberichte und Pflegegutachten über mindestens drei bis sechs Jahre. Je länger der abgebildete Zeitraum ist, umso genauer ist eine Entwicklung beziehungsweise das Ausbleiben von Entwicklung und das Auftreten von Komplikationen nachvollziehbar und damit eine individuelle Einschätzung des Vorversterblichkeitsrisikos möglich.

Je nachdem, um welche Art von Schädigung es sich handelt, finden sich in der Literatur große Kohortenstudien für das entsprechende Patientenkollektiv, in die bestimmte Risikofaktoren einfließen und damit eine erste grobe Einschätzung zur Lebenserwartung ermöglichen. Für das Beispiel des asphyktischen Neugeborenen würde sich – je nach Ausprägung der Cerebralparese – durch Beurteilung der grobmotorischen Einschränkungen bezüglich der Mobilität und der Art und Weise der Ernährung, zum Beispiel über eine Sonde, die Überlebenswahrscheinlichkeit bis ins Alter von 30 Jahren vorhersagen lassen.

Entsprechende Tabellen und Kurven finden sich unter anderem auch für Verletzungen des Gehirns oder des Rückenmarks. Problematisch ist die grobe Rasterung der Tabellen, die Limitation der oberen Altersgrenze und das Fehlen weiterer Einflussgrößen wie Kommunikationsfähigkeit, Aspirationsrisiko, Infektneigung, Folgeschäden am Bewegungsapparat, Einschränkungen von Hören und Sehen etc.

Daten zur Kombination von Beeinträchtigungen fehlen

Zu einigen dieser Faktoren liegen Daten vor, aus denen sich die wahrscheinliche Reduktion der Lebenserwartung ableiten lässt. Jedoch fehlen Daten zur Kombination verschiedener Beeinträchtigungen. Am Beispiel der Epilepsie lässt sich die Schwierigkeit zur Vorhersagekraft solcher Tabellen gut darstellen. So führen symptomatische Epilepsien zu einer Einschränkung der Lebenserwartung von bis zu zwölf Jahren. Der Berechnung liegen jedoch auch diejenigen Epilepsien zugrunde, die durch Hirntumore oder Schlaganfälle hervorgerufen wurden. Dabei führt oft die Grunderkrankung und nicht die Epilepsie zu einem vorzeitigen Versterben. Ebenso wenig lassen sich prognostisch günstige Faktoren in Überlebenszeiten beziffern.

Daher kann eine Einschätzung der Lebenserwartung aufgrund der Komplexität der verschiedenen Einflussfaktoren letztendlich nur durch Personen mit entsprechender Expertise und unter Zuhilfenahme der bisher publizierten Überlebenstabellen erfolgen. So lässt sich die wahrscheinliche individuelle Lebenserwartung prognostizieren. Diese Einschätzung sollte angepasst werden, sofern neuere Informationen vorliegen: die Patientin/der Patient erhält zum Beispiel ein Tracheostoma, eine künstliche Öffnung an der Luftröhre, oder die Epilepsie verschlechtert sich.

Quelle: AM PULS – Das ACTINEO Magazin (Ausgabe 12 | September 2022)

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